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Der Spagat der Pflege zwischen Ethik und Ökonomie
Referat am 15. Pflegesymposium: Querschnittlähmungen - Komplikationen und deren Prophylaxen, Donnerstag, 16. November 2006 und Freitag, 17. November 2006

Haben Sie schon einmal einen Ökonomen sagen gehört: «Wenn wir den ethischen Werten in der Krankenpflege nicht mehr Gewicht geben, ist das ökonomisch nicht zu verantworten?» Ich nicht. Das Umgekehrte hört man aber immer wieder: Wenn wir - die Pflegenden - uns nicht vermehrt auch mit ökonomischen Aspekten befassten, würden uns in naher Zukunft die Mittel fehlen, um eine ethisch verantwortbare, professionelle Pflege zu gewährleisten. Der Ruf nach ökonomischen Überlegungen ist im Gesundheitswesen unüberhörbar. Ein Grund für die verschärfte Diskussion ist die Bevölkerungsentwicklung, die für das Gesundheitswesen und somit auch für die Pflege eine Herausforderung ist. Sie wissen es: Es gibt mehr ältere Menschen, mehr Demenz- und Depressionskranke und somit insgesamt mehr Pflegebedürftige.

Die Entwicklungen im Gesundheitswesen werden auch mit dem neuen Abrechungssystem der diagnosebezogenen Fallgruppen - den sog. DRG’s (Diagnoses related Groups) die Aufenthaltsdauer in der «Spitin» verkürzen und damit zu weiteren Schliessungen von Akut-Betten führen. Dies wiederum erzwingt einerseits eine noch höhere Pflegeintensität. Andererseits wird die Spitex eine zunehmend grössere Bedeutung bekommen. Auf der politischen Bühne gibt es keine Anzeichen dafür, dass der Spardruck in naher Zukunft abnehmen wird. Die Krankenkassenprämien steigen ungebrochen. Und ein immer grösserer Teil der Bevölkerung kann diese nicht mehr bezahlen.

Doch was geht uns das als Pflegende an? Dieser Frage will ich in meinem Referat nachgehen. Es ist für uns Pflegende wichtig, sich auch mit den Zusammenhängen von Pflege mit Ethik, Ökonomie und Politik zu befassen. Schön, dass dies an einer solchen Tagung wie heute Platz hat. Eingeladen wurde ich somit nicht primär als Pflegefachfrau oder Berufsschullehrerin, sondern als Frau, die mit dem Hintergrund des Pflegeberufs mehr als 14 Jahre in der nationalen Politik mitwirken durfte.

Ich habe als Nichtökonomin nicht den Anspruch, die marktwirtschaftlichen Mechanismen im Detail zu verstehen und darüber umfassend zu reflektieren. Ich möchte aber aufzeigen, warum unsere Berufsethik von uns auch politisches Handeln verlangt. Ich will auch zeigen, dass wir als Berufspersonen mit unserem Fachwissen wertvolle Impulse in die politische Debatte einbringen können und müssen.

Ich habe gerne zugesagt, hier zu sprechen, weil ich überzeugt bin, dass Pflegende in politischen Gremien viel zu sagen haben. Viele politische Diskussionen haben mir gezeigt, dass das Fachwissen der Pflegenden oft fehlt. Zwar werden die Forderungen der Pflegenden in den letzten Jahren von den Medien und damit in der Öffentlichkeit zunehmend wahrgenommen. Aber in den Entscheidungsgremien fehlen unsere Fachleute. In den Parlamenten etwa sind wir massiv unterverteten, während ÄrztInnen und Krankenkassen ihre Lobbyisten gut platziert haben. Und weil dies so ist, gibt es bei Politikerinnen und Politikern zum Teil abstruse Vorstellungen über den Stellenwert der Pflege. Es wird dann locker entschieden, dass zum Beispiel die Krankenkassen die Pflegekosten nicht mehr voll übernehmen sollen. Der Direktor des Branchenverbands der Schweizer Krankenversicherer, Marc-André Giger, plädierte im März 20051 dafür, dass die Kassen nur noch die Behandlungspflege voll zahlen sollen. Für die so genannte Grundpflege soll es einen fixen Betrag geben. Gleicher Meinung ist übrigens auch unser Gesundheitsminister Pascal Couchepin. Im Klartext: Die Kassen - und ein Teil der verantwortlichen Politikerinnen und Politiker - möchten Pflegekosten auf die Privaten abwälzen. Für Menschen mit einem finanziellen Polster wäre das zwar tragbar. Aber für etliche würde dies zu einer nicht verantwortbaren Unterversorgung führen.

Ein anderes Beispiel für die eingeschränkte Wahrnehmung, was Pflege kann und soll, konnten wir vor zwei Jahren in einer Sonntagszeitung unter dem Titel «So will er die Schweiz retten» lesen. Ich zitiere einen FdP-Nationalrat: «Keine neuen staatlichen Altersheime mehr - stattdessen können Alte, Invalide, Kinder, Langzeitarbeitslose oder Ausgesteuerte auch auf Bauernhöfen betreut und beschäftigt werden.»2 Der zitierte Politiker wohnt übrigens nur sieben Bahnminuten von Nottwil entfernt. Er stellt sich also die Betreuung alter Menschen auf dem Bauernhof vor. Als nächstes sind dann wohl auch Kranke dran - besagter Nationalrat wird für sich persönlich wohl schon ein privates Spital leisten können.

Aber nochmals, was gehen uns solche Gedankenspinnereien an? Welche Rolle kommt den Pflegenden im ganzen Sparzirkus zu? Sie persönlich müssen in Ihrem Pflegealltag täglich abwägen, wie Sie ihre Aufgabe als Pflegende erfüllen und ob Sie dabei Ihren ethischen Prinzipien nach Beauchamp und Childress gerecht werden. Sie kennen diese Prinzipien: Achtung der Autonomie, Gutes tun (Hilfe und Fürsorge leisten), Schadensvermeidung und Gerechtigkeit.

Und wo sind unsere Grenzen? Was, wenn mir die Zeit oder andere Ressourcen fehlen, um nach meinen ethischen Prinzipien pflegen zu können? Und wieso fehlt mir die Zeit? Vielleicht deshalb, weil für die anfallende Pflegearbeit zu wenig Stellen bewilligt sind? Vielleicht, weil im Betrieb die finanziellen Mittel fehlen, um die nötigen Anschaffungen zu tätigen, die für meine Pflegearbeit nötig wären?

Von welcher Ökonomie reden wir, wenn wir sagen, dass uns Ressourcen und Mittel fehlen? Kann der Markt im Gesundheitswesen überhaupt fair sein? Meinen wir die freie Markwirtschaft, die hierzulande zum Teil als Allheilmittel gepriesen wird? Ein solches Ökonomieverständnis blendet aus, dass die Menschen als Patientinnen und Patienten unmöglich alle denselben Informationsstand und dasselbe Wissen haben können. Vielmehr sind sie in einer besonderen Situation, weil sie durch die Krankheit abhängig sind und kaum mehr frei entscheiden können. In ihrer Abhängigkeit sagen sie nur allzu gerne ja zu den Vorschlägen der Medizin und hoffen, dass dies ihrer Genesung dient. Und sie hoffen und dürfen ja auch erwarten, dass sie das bekommen, was medizinisch und pflegerisch nötig ist.

Gerechtigkeit ist nur eines unserer Pflegeprinzipien. So müssen wir uns die Frage stellen, ob denn die Ökonomie nach dem freien Marktprinzip in der Pflege funktionieren kann. Die Antwort lautet nein, die Pflege ist nicht zu vergleichen mit irgendeiner Dienstleistung, die auf dem freien Markt angeboten wird. Es braucht Regelungen. Nur dann können die ethischen Prinzipien im Alltag gebührend berücksichtigt werden. Die Betreuungs- und Behandlungsmassnahmen müssen selbstverständlich auch wirtschaftlich ausgeführt werden. Dazu braucht es Rahmenbedingungen und Regeln. Die Frage ist jedoch, wer diese Regelungen erlässt und wie sie ausgestaltet werden, welche Interessen vertreten werden und wie viel uns was wert ist.

Vieles in unserer Gesellschaft wird geprägt durch das Menschenbild, das einem Entscheid zugrunde liegt. Ökonomie an sich ist ja nichts Schlechtes. Es bedeutet ganz simpel «haushalten».Unsere Frage heisst demnach, wie haushalten wir miteinander und ist dieses Haushalten auch kompatibel mit unseren ethischen Grundsätzen? Und wie beeinflussen uns die politischen Rahmenbedingungen? Sind diese für uns wichtig und wieso? Wir stellen doch jetzt schon täglich fest, dass die politischen Rahmenbedingungen unseren Pflegealltag prägen, etwa wenn die Stellenpläne nicht entsprechend der Arbeitsintensität zunehmen. Ein anderes Beispiel ist die Frage, ob es in einer Institution Palliativcare-Betten gibt. So etwas ist von den politischen Rahmenbedingungen abhängig.

Ein anderes Beispiel ist die Frage, wie wir reagieren, wenn wir hören, dass Leistungen der spitalexternen Pflege in Zukunft nicht mehr voll von der Grundversicherung übernommen werden sollen. Diese Diskussion der fairen Mittelverteilung ist in vollem Gang. Die heutige Regelung finden wir im seit 1996 geltenden Krankenversicherungsgesetz. In Artikel 25, wo die allgemeinen Leistungen bei Krankheit festgelegt werden, wird festgehalten, dass Pflegekosten von der Grundversicherung übernommen werden müssen.3 Wir sind uns hier wohl einig, dass dies so bleiben muss.

Nun erlauben Sie mir einen kurzen Abstecher in die Theorie. Was meint ein Ökonom der Universität St.Gallen? Peter Ulrich, ein renommierte Wirtschaftsethiker, unterscheidet das Marktprinzip vom Moralprinzip. Das Marktprinzip sei interessenbasiert. Es zählt, was mir nützt. Die private Erfolgsmaximierung steht im Vordergrund. Demgegenüber ist das Moralprinzip gerechtigkeitsbasiert. Es gilt, was legitim ist. Grundlage für dieses Handeln ist dabei die «unbedingte wechselseitige Achtung und Anerkennung der Individuen als Personen gleicher Würde». Dieses Moralprinzip findet sich auch in den ethischen Grundsätzen des SBKs wieder.

Selbstverständlich ist es schön und gut, wenn wir uns auf das Moralprinzip stützen. Das Problem ist nur, wenn ich dies nur in meinem Berufsalltag zu verwirklichen versuche und nicht über den Gartenhag hinausschaue. Wir Pflegende müssen wachsam sein, was die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen angeht. Sonst geschieht Leistungsabbau. Und ich stosse bald an meine eigenen Grenzen mit Frustrationen, bis hin zum Burn-out und Berufswechsel.

Wir Pflegenden müssen uns öfters an folgende Diskussion heranwagen: Wie schaffen wir Gerechtigkeit, Achtung vor der Autonomie der Patientinnen und Patienten, gutes Tun und Schadensvermeidung, ohne dabei einer Vielklassen-Medizin Vorschub zu leisten? Wie helfen wir mit, dass alle eine gute Grundversicherung haben? Was gehört in die Grundversicherung und soll allen - unabhängig von Alter, Geschlecht oder sozialem Status - zugänglich sein? Diese brennenden Fragen dürfen uns nicht gleichgültig sein. Nicht nur als Pflegeperson, sondern auch als Staatsbürgerin oder Staatsbürger geht uns das etwas an. Auf solche Diskussionen müssen wir uns als Pflegende vermehrt einlassen.

Lassen Sie mich anhand von einigen Beispielen beleuchten, weshalb es wichtig ist, dass sich die Pflegenden nebst ethischen Fragestellungen auch vermehrt mit ökonomischen Fragestellungen befassen. Wenn wir in der Politik, in den Medien oder bei Interessengruppen darlegen müssen, weshalb diese oder jene Massnahmen oder politische Forderung wichtig und sinnvoll sind, reicht es heute nicht mehr, ausschliesslich mit ethischen Argumenten zu fechten. Sonst sind wir einfach angreifbar mit dem Argument, «ja, wo kämen wir da hin, wenn die Pflegenden alle Wünsche der Kranken erfüllen, ohne dabei die verursachten Kosten zu berücksichtigen?»

Ethische Argumente sind wichtig, aber oft reichen sie für unser Gegenüber nicht aus. Im politischen Diskurs müssen wir vermehrt auch ökonomisch argumentieren. Wir müssen aufzeigen, dass es sich nicht lohnt, bei der Pflege zu sparen. Wir müssen aufzeigen und belegen können, dass sparen bei der Pflege ökonomisch unverantwortbar ist. Dabei helfen uns zwar unsere ethischen Prinzipien. Wir kommen aber nicht darum herum, Zahlen zu präsentieren, welche die Beweise dafür liefern. Auch deshalb ist die Forschungsarbeit der Pflegenden so wichtig. Heute erreichen wir nur noch etwas, wenn wir unsere Behauptungen glaubwürdig belegen können. Und das können wir sehr wohl. Seit Jahren belegen Studien, dass Spitalinfektionen zu mehr Leiden, zu längeren Spitalaufenthalten und damit zu höheren Gesundheitskosten führen. Schon vor zehn Jahren stand in der Zeitschrift «Puls-Tipp»: «Über eine Million Menschen wurden letztes Jahr in Schweizer Spitälern behandelt. Etwa 140'000 holten sich einen Infekt. Zusätzliche Behandlungskosten: rund eine Milliarde Franken.»4 Andere Fachleute schätzten das Sparpotenzial auf 350 Millionen.

Im Heft «Managed Care» Nr.6 2003 wird unter dem Titel «Kosten und Nutzen der Infektionsprävention aus pflegeökonomischer Sicht»5 darauf hingewiesen, dass pro Jahr sogar mehrere 100 Millionen Franken für die Behandlung von Spitalinfektionen ausgegeben werden müssen. Und: «Ein beträchtlicher Teil der Infektionen kann verhindert werden, wenn das Personal genügend Zeit für Hygienemassnahmen und für entsprechende Schulungen hat.» Die Autoren ziehen den Schluss: «Diese Zahlen zeigen eindrücklich, dass sich Investitionen, die der Verbesserung der Spitalhygiene dienen, durch eingesparte Kosten mehr als bezahlt machen.»6

Eine im Juli 2004 veröffentliche Studie aus Genf weist nach, dass 43 Prozent von 163 beobachteten Ärztinnen und Ärzten die Hände nicht korrekt reinigten, bevor sie eine Patientin oder einen Patienten untersuchten.7

Als eine der bedeutendsten Arbeiten der letzten Zeit erachte ich die Forschungsstudie des Pflegeinstituts der Universität Basel, die sogenannte «Rich-Nursing-Studie»8. (Rationing of Nursing in Switzerland CH). Die vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) in Auftrag gegebene und im vergangenen Frühling abgeschlossene Studie «Rationierung von Pflege in Schweizer Spitälern und ihre Auswirkungen auf Patienten und Pflegepersonalmangel» belegt wissenschaftlich, was der gesunde Menschenverstand nahe legt: Wenn notwendige pflegerische Massnahmen nicht durchgeführt werden, weil es an Zeit, Personal oder an fachlichem Wissen und Können fehlt, wird es für die Patienten gefährlich. Die Studienresultate aus acht Schweizer Spitälern sind für die Steuer- und Prämienzahler von besonderem Interesse.

Stellenabbau bei der professionellen Pflege fördert die versteckte Rationierung von Pflegeleistungen mit Komplikationsfolgen für die Patienten und potenziellen Mehrkosten für die Versicherer. Es ist an den Institutionen des Gesundheitswesens und an den Berufsverbänden, diese Daten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Denn mit diesen Studienresultaten haben wir wissenschaftliche Resultate zur Verfügung, auf die wir uns stützen können, wenn wir unsere Forderungen platzieren.

Unser Berufsverband hat vor einem Jahr zur RICH-Nursing-Studie unter dem Titel «Abbau der Pflege verursacht Mehrkosten» wie folgt Stellung bezogen: «Der SBK hat mit Genugtuung Kenntnis von den Resultaten der RICH-Nursing-Studie genommen, die wissenschaftlich untermauert, was der SBK schon lange vertritt: Eine qualitativ gute Pflege hilft, Gesundheitskosten zu sparen. Wenn Pflege abgebaut oder, wie es die Studie beschreibt, implizit rationiert wird, sinkt bei den Patienten die Zufriedenheit. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Stürze, der Druckgeschwüre (Decubiti), der Medikamentenfehler und kritischer Zwischenfälle zu. Zudem wird das Personal unzufrieden und resigniert. Damit entstehen durch ungenügende Pflege massive Zusatzkosten. Allein die Vermeidung von Stürzen und Druckgeschwüren ist ihr Geld wert: Die Behandlung einer Oberschenkelfraktur kostet rund 60'000 Franken, diejenige eines Dekubitus 50'000 Franken.

Politik und Spitalmanagement müssen davon abkommen, Pflege einseitig als Kostenfaktor zu sehen; der grosse Nutzen der Pflege muss in die Rechnung einbezogen und bei der Pflegefinanzierung in Betracht gezogen werden.»9 So weit der SBK. Ich pflichte dem vollumfänglich bei. Den grossen Nutzen der Pflege können wir nur darlegen, wenn wir diesen wissenschaftlich ausweisen können und so die Mittel bekommen, die wir benötigen, um eine gute Pflegequalität zu erbringen. Auch deshalb sind die Pflegewissenschaften so wichtig.

Der SBK hat zum Glück die Zeichen der Zeit erkannt und ist daran, den Weg für eine wissenschaftliche Studie zu bereiten. Diese soll im Jahr 2008 starten und Normen zum optimalen Verhältnis von Pflegenden und Patienten erarbeiten. Damit kann auch der Wert der Pflege aufgezeigt werden, und zwar in Zahlen. 2009 und 2010 soll das Ergebnis dann politisch umgesetzt werden, so der SBK.

Auf dem politischen Parkett, Sie wissen es, steht die Neuordnung der Pflegefinanzierung an. Dabei geht es um die Frage, ob pflegerische Leistungen ambulant und im Pflegeheim auch in Zukunft als Leistungen der Grundversicherung anerkannt werden. Unser System der Kopfprämien strapaziert die Solidarität zwischen den Generationen. Doch es geht nicht an, in der Finanzierung der Pflege die Solidarität zwischen den Generationen zu Lasten der Solidarität zwischen Akut- und Chronischkranken einerseits und Pflegebedürftigen andererseits aufzugeben.

Ich will hier keine KVG-Debatte vom Zaun reissen. Aber die Beschlüsse werden uns als Berufsleute, als potenzielle Kundinnen und als Gesellschaft als Ganzes stark betreffen. Vielleicht erinnern sich einige an die Berichterstattung über die Beschlüsse des Ständerats in der Flimser-Session. Pflegebedürftige sollen finanziell mehr belastet werden. Der Spitex-Verband kommentierte:

«Würde der heute gefällte Entscheid des Ständerats umgesetzt, müssten Pflegebedürftige fast die Hälfte der Spitex- und Heimpflegekosten selber bezahlen.»10 Gegen eine Lösung auf dem Buckel der Pflegebedürftigen wehrte sich auch der SBK, der schon im Voraus dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) im April 2004 gemeinsam mit dem Spitex-Verband, dem Heimverband curaviva und H+ die Spitäler der Schweiz einen eigenen Finanzierungsvorschlag eingereicht hatte. Dieser hält fest, dass die Pflege ein unabdingbarer Bestandteil der Gesundheitsversorgung ist, deren Finanzierung in jedem Fall sichergestellt werden muss.

Zwei Ziele, die der SBK mit den anderen Leistungserbringern gemeinsam verfolgt: Erstens gleiche Finanzierungsgrundlagen für ambulante und stationäre Pflegeleistungen und keine Unterscheidung zwischen Grund- und Behandlungspflege. Zweitens sollen die vollen Kosten der Pflegeleistungen gemäss Art. 7 KLV für Pflegesituationen der Akut- und Übergangspflege zu Lasten der Krankenversicherer gehen. Dabei dürfte die maximale Beteiligung der Heimbewohnerinnen und -bewohner 20 Prozent nicht übersteigen.

Der eigentliche Rückschritt des Vorschlags des Ständerates ist die Tatsache, dass in Zukunft nicht mehr wie heute Pflegekosten in Diagnose und Therapie voll von der Kasse übernommen werden müssten. Die Befürworter des Abbaus argumentieren, dass Pflege nicht zwingend von Professionellen erbracht werden muss, sondern dass dies ja auch Angehörige übernehmen können. Wenn man diese Denkweise auf einen anderen Lebensbereich, die Kinderbetreuung, überträgt, wird deutlich, wie abstrus der Vorschlag ist: Was wäre, wenn Eltern den Kindern plötzlich auch Lesen und Schreiben beibringen sollten, um so im Bildungswesen zu sparen? Eine solche Forderung kommt doch niemandem in den Sinn. Bei der Pflege ist das aber durchaus salonfähig. Was an Pflege durch diplomierte Pflegepersonen gemacht wird, soll in Zukunft von Laien und Freiwilligen gemacht werden. Das führt zu weniger professioneller Pflege, zu mehr Komplikationen und damit zu höheren Kosten und mehr Leid. Viele, die jetzt zuhause gepflegt werden, müssten dann möglicherweise wieder im Heim oder sogar im Spital betreut werden.

Dieses Ansinnen hat mit dem tiefen Stellenwert der Pflege zu tun. Auch an diesem Beispiel können wir erkennen, dass es wichtig ist, dass wir den ökonomischen Nutzen unserer Arbeit ausweisen und belegen können. Dies hilft uns, das Bild zu korrigieren, wonach Patienten als ökonomisches Gut nur so lange interessant sind, als ein ökonomischer Nutzen abfällt. Sobald Patienten zum Kostenfaktor werden und die Pharmaindustrie nur noch wenig an ihnen verdient, sind sie der Gesellschaft nicht mehr viel wert. Dabei wird vergessen oder verdrängt, dass dieselbe Patientin, derselbe Kranke oft in den früheren Jahren sehr viel zum Bruttosozialprodukt beigetragen hat. Würde die Vollkostenrechnung gemacht, wäre meistens sehr wohl ein so genannter Nutzen ersichtlich.

Sie sehen, die Fragen, mit denen Sie sich auf dem Politparkett auseinandersetzen können, sind spannend. Das Spielfeld ist gross. Wenn wir uns als Berufsangehörige nicht aufs Spielfeld begeben, spielen andere an unserer Stelle und bestimmen auch die Regeln, auch für uns, für unsere Arbeit.

Natürlich müssen wir auch lernen, Ausgabenposten zu benennen, die tatsächlich fraglich sind. Ist es wirklich angebracht, dass Untersuchungen wie Labor und Röntgen, die vom Hausarzt gemacht werden, bei der Überweisung ins Spital wiederholt werden? Ist es nicht so, dass zum Teil technische Angebote genutzt werden, ganz einfach deshalb, weil sie existieren? Vor Jahren schrieb der Bundesrat, dass für die Schweiz 50 Magnet-Resonanz-Tomografen reichen. Mehr brauche es nicht. Schon längst gibt es aber über 100 Magnet-Resonanz-Tomografen. Und dass diese nun auch amortisiert sein wollen und gebraucht werden, versteht sich von selbst.

Oder Sie kennen alle den Streit um die Anzahl der Transplantationszentren für Leber und Herz. Braucht es wirklich vier solcher Zentren? Diesbezüglich hat das Parlament bereits ein Zeichen gesetzt und den Bundesrat beauftragt, dafür zu sorgen, dass die Transplantationszentren konzentriert werden. Dass dieses Ziel in unserem föderalistischen Staatsgebilde seine Probleme mit sich bringt, ist leider eine Tatsache.

Wir haben nicht nur Aufgaben und Herausforderungen vor uns, wir haben auch schon viel erreicht. So darf auch die neue Bildungssystematik für den Pflegberuf als Errungenschaft bezeichnet werden. Ich nenne etwa die Pflegeausbildungen auf Stufe «Höhere Fachschule», die Durchlässigkeit des Systems, die Einordnung ins eidgenössische Bildungssystem mit der Anerkennung der Berufstitel. Dies war möglich, weil sich unser Berufsverband jahrelang für die Aufwertung des Pflegeberufs einsetzte, in den Vorzimmern von Ständerat und Nationalrat Gespräche führte und in den vorbereitenden Kommissionen die Vorstellungen unserer Berufsgruppe kompetent einbrachte. Erinnern wir uns, es ist das Fachhochschulgesetz, das für die Neuorientierung grundlegend war. Und es war keinesfalls von Anfang an selbstverständlich, dass die Pflegeberufe gebührend berücksichtigt wurden. Über die neuen Herausforderungen und Risiken der Bildungsreform spreche ich hier nicht. Das überlasse ich gerne kompetenteren Vertreterinnen des Berufsverbandes.

Als Erfolg möchte ich auch das Engagement der Berufsangehörigen in meinem Kanton nennen. In den Achtzigerjahren hatten wir eine Abstimmung gegen eine eigene Herzchirurgie in St.Gallen gewonnen. Das Volksnein hätten wir nicht erreicht ohne den grossen Einsatz des SBKs. Wir hatten uns auch erfolgreich gegen die Umwandlung der Spitäler in Aktiengesellschaften nach dem Vorbild des Thurgaus gewehrt. Ausgehend von der Tatsache, dass unser pflegerisches Handeln etwas mit den ökonomischen Rahmenbedingungen zu tun hat, möchte ich den Schluss ziehen: Unsere Herausforderung ist nicht eigentlich der Spagat zwischen Pflegeethik und Ökonomie. Unsere Herausforderung ist vielmehr, den Draht zur Politik zu knüpfen. Ein guter Draht zur Politik wird es uns in Zukunft ermöglichen, die Rahmenbedingungen der Pflege, der Medizin und des Gesundheitswesens überhaupt mitzugestalten.

Nehmen Sie meine Anregungen als Denkanstoss mit in den Berufsalltag: Wie könnte ich mich mit meinem Fachwissen mehr einbringen? In meiner Gemeinde, an meiner Arbeitsstelle, bei den mir bekannten Politikerinnen und Politikern, im Berufsverband?

Und schliesslich müssen besonders wir Frauen lernen, zu einer neuen Machtverteilung beizutragen. Wir müssen Abschied nehmen von unserem tief verankerten Bestreben nach Anerkennung durch Wohlwollen. Es geht um eine Neuverteilung von Macht. Wir Frauen müssen uns ein unverkrampfteres Verhältnis zur Macht aneignen. Macht existiert so oder so. Die Frage ist bloss: mit oder ohne uns? Macht ist nicht grundsätzlich schlecht, sondern es hängt davon ab, für was sie gebraucht oder eben missbraucht wird. In der Politik geht es per se um die Machtbeteiligung. Und wieso sollten wir gut 50 Prozent Frauen in der Schweiz nicht auch zu mindestens 50 Prozent an der Gestaltung unserer Lebensumstände mitwirken?

Ich bin eingestiegen mit der Feststellung, dass Ökonomen praktisch nie sagen, dies können wir uns nicht leisten, weil damit die ethischen Prinzipien der Pflege missachtet würden. Den im Titel erwähnten Spagat werden wir nur schaffen, wenn wir in Zukunft in Entscheidungsgremien vermehrt Einfluss nehmen, unsere Stimme erheben und uns mit unserer Fachkompetenz einbringen. Wir müssen aber auch offen sein für Veränderungen. Der Kostendruck kann auch eine Chance sein, vermehrt mitzureden, wo Entscheide gefällt werden. Veränderungen passieren sowieso, ob wir dies wollen oder nicht. Die Frage ist heute nur, ob diese Veränderungen mit oder ohne die Pflegenden geschehen.

So schliesse ich mit dem Wunsch, dass Sie alle Ihre Anliegen auch auf der politischen Bühne vermehrt gerne und kompetent vertreten, sei es als Lobbyistin, als Parteimitglied oder in einem Parlament, so dass es immer mehr Verantwortlichen einleuchtet, dass einer freien Marktwirtschaft durch ethische Prioritäten Grenzen gesetzt werden müssen. Die Ökonomen der Zukunft mögen einsehen, dass ein Abbau an Pflege - sei es an Stellenprozenten oder an Fachpersonen - letztlich Mehrkosten verursacht und deshalb ökonomisch falsch ist. Ich halte es mit Friedrich Dürrenmatt, der mal gesagt hat: «Was die Zukunft bringt, wissen wir nicht, aber dass wir handeln müssen, wissen wir.»

Und wenn Sie mich fragen, weshalb ich mich auch nach der Rücktritt aus dem Nationalrat noch politisch engagiere, dann sage ich: Erstens bin und bleibe ich eine politische Frau. Und zweitens, vielleicht noch wichtiger: Ich glaube daran, dass Veränderungen möglich sind, aber sie fallen nicht vom Himmel. Die deutsche Theologin und Friedensfrau Dorothee Sölle sagte es so: «Wir können uns den Luxus der Hoffnungslosigkeit nicht leisten.» Also, liebe Berufskolleginnen, liebe -kollegen: Das stimmt uns doch hoffnungsvoll. In dem Sinn wünsche ich eine gute Tagung und später in der täglichen Arbeit viel Erfolg!
1 Tages-Anzeiger; 02.03.2005; Seite 11
2 SonntagsBlick, 12. September 2004, Seite 8 und Seite 9
3 KVG Art. 25 Allgemeine Leistungen bei Krankheit
  1. Die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt die Kosten für die Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen.
  2. Diese Leistungen umfassen:
    • a. die Untersuchungen, Behandlungen und Pflegemassnahmen, die ambulant, bei Hausbesuchen, stationär, teilstationär oder in einem Pflegeheim durchgeführt werden von:
    • ......
  3. Personen, die auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin Leistungen erbringen.
4 Puls-Tip, Nr. 11/1995
5 Managed Care 6, 2003, Seite 10
6 Managed Care 6, 2003, Seite 12
7 St.Galler Tagblatt, Kaleidoskop, 13. Juli 2004
8 nursing.unibas.ch/ins/deut/news/Zusammenfassung%20RICH%20Nursing-Studie.pdf
9 http://www.sbk-asi.ch/webseiten/deutsch/0default/aktuell.htm#RICH-Nursing-Studie
10 http://old.tagblatt.ch/archivsuchepop/detail.jsp?artikel_id=1238433&liste=1238433&ressorce=archiv

Literaturverzeichnis
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  • SBK: „Abbau der Pflege verursacht Mehrkosten - Stellungnahme des SBK zur RICH-Nursing-Studie“, auf: www.sbk-asi.ch
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  • Schubert, Maria, u.a.: „DIE AUSWIRKUNGEN DES STELLENABBAUS IM PFLEGEBEREICH“, Juli 2004, auf: www.unibas.ch
  
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