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Wie ist der Tod festzustellen?
Beitrag in Soziale Medizin, Maiheft, 2011

Kritische Anmerkungen zu neuen medizin-ethischen Richtlinien

Darf eine Organentnahme vorbereitet werden, solange der Organspender noch lebt? Das ist eine der brisanten Fragen in Zusammenhang mit dem Entwurf für neue medizin-ethische Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften.

Bis Ende März befanden sich die medizin-ethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) zur «Feststellung des Todes mit Bezug auf die Organtransplantation» in Vernehmlassung. Die SAMW folgt mit der Schaffung dieses Regelwerks einem in der Verordnung zum Transplantationsgesetz festgelegten Auftrag. Darin unterstellt der Gesetzgeber nicht die Definition des Todes, jedoch die Bestimmungen, wie dieser lege artis festzustellen ist, dem Stand der medizinischen Wissenschaften. Die nun vorliegenden Richtlinien geben nicht nur Empfehlungen, wie der Tod festzustellen ist, sondern auch unter welchen Bedingungen Organe entnommen und vorbereitende medizinische Maßnahmen dazu durchgeführt werden können. Dies gestützt auf das Rechtsgutachten "Vorbereitende medizinische Maßnahmen im Hinblick auf die Organentnahme" von O. Guillod und M. Mader vom März 2010 (www.tranplantinfo.ch oder bag.admin.ch).

Bei der Beurteilung der vorliegenden Richtlinien sind vor allem zwei Situationen grundsätzlich zu unterscheiden:
  1. Organentnahme nach dem Eintreten eines primären Hirntodes
  2. Organentnahme nach dem Entscheid zum Therapieabbruch bei aussichtsloser Prognose mit kontrolliertem Herzstillstand und dem erst sekundär eintretenden Hirntod

Organentnahme nach Eintritt des primär eingetretenen Hirntodes
Neu soll beim primär eingetretenen Hirntod auf eine zweite Hirntoddiagnostik verzichtet werden. In Zukunft soll es nur noch einen Todeszeitpunkt geben. Die erste Hirntoddiagnose wird als ausreichend angesehen. Nicht aufgenommen wird in den vorliegenden Richtlinien die erneut entstandene Kontroverse um das Hirntodkriterium. Dabei wird dieses aufgrund von neuen Erkenntnissen insofern in Frage gestellt, als man nicht einfach davon ausgehen könne, dass mit dem Hirntod die Koordinationsfunktion des Hirns für die Organe ausfalle. Es wird denn unter anderem auch dafür plädiert, bei einer Organentnahme stets eine Anästhesie durchzuführen, wie dies in der Schweiz tatsächlich geschieht.

Das Hirntodkriterium wurde 1968 als neues Todeskriterium eingeführt, um Menschen vom Beatmungsgerät befreien zu können (Harvard-Bericht der Harvard Medical School), wenn nur noch ihre Organe funktionstüchtig erhalten werden ohne Aussicht darauf, dass sie je wieder in irgendeiner Weise mit ihrer Umwelt in Kontakt treten können. Das Hirntodkriterium wurde also 1968 im Interesse des künstlich beatmeten Menschen eingeführt. Gleichzeitig ermöglichte dieser Entscheid auch die Organspende. Denn beim Hirntoten sind die Organe in unversehrtem Zustand. Der Körper des Hirntoten ist beatmet und durchblutet. Weltweit unterschiedlich geregelt ist, unter welchen Bedingungen dem Hirntoten Organe entnommen werden dürfen. Es existieren folgende Varianten:
  • Direkte Zustimmungslösung: Nur wenn die betreffende Person explizit ihre Zustimmung gegeben hat.
  • Erweiterte Zustimmungslösung: Nur wenn die Angehörigen über den Willen der betroffenen Person informiert haben (gilt u.a. in der Schweiz).
  • Widerspruchslösung: Immer, wenn kein expliziter Widerspruch vorliegt.

Organentnahme nach dem Entscheid zum Therapieabbruch
Der zur Vernehmlassung vorgelegte Entwurf fordert eine weitgehende Änderung, die gut bedacht sein will: Die Organentnahme nach dem Entscheid zum Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen bei aussichtsloser Prognose mit kontrolliertem Herzstillstand. Diese stellt einen viel weitergehenden Eingriff als die Organentnahme nach einem primär eingetretenen Hirntod dar.

Begründung: Beim urteilsunfähigen und noch lebenden Menschen mit aussichtloser Prognose könnten (neu) im Interesse von Organempfängerinnen und Organempfängern
  1. der Entscheid zur Organentnahme getroffen und
  2. noch zu Lebzeiten vorbereitende medizinische Maßnahmen zur Organerhaltung vorgenommen werden.
Bei der Abstimmung zum Transplantationsgesetz (TPG) (http://www.admin.ch/ch/d/sr/c810_21.html) wurde nur die Organspende nach bereits eingetretenem Hirntod thematisiert. Nach Artikel 8 und 10 des gültigen TPG darf erst nach dem eingetretenen Hirntod bei den Angehörigen nach dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen gefragt werden. Und vorbereitende medizinische Maßnahmen dürfen nur dann vorgenommen werden, wenn der potenzielle Spender nach umfassender Aufklärung zugestimmt hat.

Da die Organentnahme nach dem Entscheid zum Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen beim kontrollierten Herzkreislaufstillstand jedoch nie Thema der Debatten zum Transplantationsgesetz war, kann nicht davon ausgegangen werden, dass diejenigen, welche zu einer Spende bereit sind, dies auch unter den nun vorgeschlagenen neuen Bedingungen wären und auch vorbereitenden Maßnahmen zustimmen würden. Als Folge des TPG wurde diese Form der Organentnahme in der Schweiz zuerst gestoppt.

Im März 2010 hat das besagte juristische Gutachten von O. Guillod und M. Mader dann aber festgehalten, dass sowohl die Anfrage an die Angehörigen als auch die vorbereitenden medizinischen Maßnahmen durchgeführt werden könnten, wenn nach dem mutmaßlichen Willen des noch lebenden, jedoch urteilsunfähigen Patienten gefragt werde. Im Anschluss an dieses Gutachten wurde das betreffende Spenderprogramm in der Schweiz wieder aufgenommen. Die medizin-ethischen Richtlinien der SAMW beschreiben nun das genauere Vorgehen und gehen dabei sogar noch weiter. Auf Seite 10 letzter Absatz von Abschnitt 3.2. steht: «Ist der mutmaßliche Wille des Patienten nicht bekannt, können vorbereitende medizinische Maßnahmen nur durchgeführt werden, wenn sie für den Erfolg der Transplantation erforderlich sind, den Patienten einem minimalen Risiko aussetzen und die Angehörigen ihre Einwilligung erteilt haben.» Medizinische Maßnahmen dürfen also bereits vor dem Tod und sogar ohne Kenntnis des mutmaßlichen Willens des urteilsunfähigen potenziellen Organspenders mit aussichtsloser Prognose vorgenommen werden. Dies stellt eine vollumfängliche Instrumentalisierung der urteilsunfähigen Patientin oder des Patienten mit aussichtsloser Prognose dar.

Heikle Fragen
Mit der Zulassung dieser Form der Organspende stellen sich Fragen sowohl grundsätzlicher Natur als auch hinsichtlich möglicher Folgen:

Grundsatzfragen:
  • Inwieweit ist diese Form der Organspende mit dem durch die Menschenwürde verbrieften Abwehrrecht in der Bundesverfassung vereinbar, bei der ein urteilsunfähiger Mensch stellvertretend und in Unkenntnis seines mutmaßlichen Willens - und sogar ohne explizite Beauftragung durch Angehörige - zur Spende freigegeben werden darf, wobei mit den vorbereitenden medizinischen Maßnahmen seine Integrität verletzt und er so instrumentalisiert werden kann?
  • Entscheide zum Abbruch von lebenserhaltenden Massnahmen bei einer aussichtslosen Prognose werden nachgewiesenermaßen sehr unterschiedlich getroffen. Es gibt keine verbindlichen Standards. Wie also können Menschen so ungefragt zur Spende freigegeben werden?
Folgenfragen:
  • Wie kann verhindert werden, dass der Entscheid, die Therapie abzubrechen, mit der Möglichkeit einer Organspende vermischt wird? Zu bedenken ist dabei, dass die Trennung der Prozesse des Therapieabbruchs einerseits und der Organentnahme andererseits, wie sie bis anhin verlangt wird, kaum mehr möglich wäre.
  • Soll in Zukunft auch die Organentnahme bei geplanten Suiziden zulässig sein? Die jetzigen Formulierungen würden auch diese Form der Organspende möglich machen.
  
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