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Heimat ist mehr
erschienen in «Schritte ins Offene», Heft 2/04

Pia Hollenstein wurde am 13. September 1950 in Libingen geboren und wuchs dort mit fünf Brüdern, drei Schwestern, Eltern und Grossmutter auf einem Bauernhof auf. Sie beendete 1972 die Ausbildung zur Krankenschwester mit Diplomabschluss AKP und 1975 eine zweijährige Weiterbildung in Intensivpflege und Reanimation. 1984/85 bildete sie sich zur Berufsschullehrerin aus und ist in dieser Funktion seit 1985 an der Schule für Gesundheits- und Krankenpflege Stephanshorn in St. Gallen tätig. Seit 1991 ist sie Nationalrätin der Grünen, seit 2001 Präsidentin der Grünen des Kantons St. Gallen.

Frau Hollenstein, Sie sind auf dem Land aufgewachsen, auf einem grossen Bauernhof im Toggenburg; diese Umgebung hat wohl Ihr Heimatverständnis stark geprägt?
Ja, ich habe gute Erinnerungen an die Umgebung meiner Kinderjahre, an mein Aufwachsen in unserer grossen Familie. Aber eigentlich hat sich mein Heimatbegriff schon früh geweitet. Heimat verbinde ich nicht einfach mit einem geografischen Ort. Heimat hat viel mit Gefühlen zu tun, mit Getragensein in einem grösseren Ganzen...

Wäre da auch von Ihrer geistigen Heimat zu reden?
Zum Teil schon, jedoch möchte ich weder ein geistiges noch ein geografisches Element herauslösen. Es geht mir vielmehr um ein umfassendes soziales, geschlechtliches und sprachliches Gefüge, in dem ich mich wohlfühle und mich frei bewegen darf.

Sie sind ja eines Tages weggezogen und haben für drei Jahre in der „Fremde“ gearbeitet...
Ja, ich lebte und arbeitete als junge Krankenschwester auf Papua-Neuguinea. Und tatsächlich wurde mir fern von meiner ursprünglichen Heimat so richtig bewusst, was der Schweiz eigen ist, was in der Schweiz anders ist als auf dieser Pazifikinsel. Ich stellte zum Beispiel fest, dass mir der Wechsel der Jahreszeiten in meinem Herkunftsland sehr behagt, dass ich es liebe, wenn es an Weihnachten so richtig winterlich ist...

Auf Papua-Neuguinea haben der passionierten Bergsteigerin gewiss die Alpen gefehlt.
Nein, es war mir dort wohl, ich war akzeptiert, ich sah mich von echter Neugier umgeben; meine Ansichten, meinen Arbeitsstil akzeptierte man nicht nur, sondern schätzte es, mein Anderssein und Anderstun kennenzulernen. Ich fühlte mich überhaupt nicht unter einem Anpassungsdruck, wie er in der Schweiz vielerorts sehr stark zu spüren ist. Das fiel mir besonders auf, als ich hierher zurückkehrte. Erst dann erkannte ich, wie viel Anpassung wir von jenen erwarten, die zu uns kommen - und dann meinen wir erst noch, wir seien ja so nett mit ihnen.

Heimweh - kennen Sie das?
Nein, eigentlich habe ich nie Heimweh verspürt, schon als Kind nicht. Erstens bin ich früh „ausgezogen“, und zweitens habe ich meine Ziele immer selbst gewählt, ich sehnte mich auch in Papua-Neuguinea nicht zurück in die Schweiz. Zwar ist die Insel zu meiner zweiten Heimat geworden, das schon, aber es ist nicht so, dass ich regelmässig dorthin zurückfliegen müsste. Die Insel ist einfach ein Ort, an dem ich für längere Zeit gelebt und mich wohlgefühlt habe. Gelegentlich macht sich allerdings etwas Fernweh bemerkbar ...

Auf Ihrer Homepage erwähnen Sie Ihr konsequentes Engagement in ökologischer, sozialer, feministischer und friedenspolitischer Hinsicht. Mit dem Stichwort „Heimat“ hat wohl vor allem Ihr Einsatz auf ökologischem und sozialem Gebiet zu tun.
Ja, die beiden Begriffe kann man nicht trennen, der eine bedingt den andern. Man kann nicht einseitig Sorge tragen zur Umwelt und darob soziale Fragen vernachlässigen; umgekehrt führt ein soziales Engagement ohne ökologische Komponente ins Abseits.
Umweltschutz, Heimatschutz, ökologisches Handeln überhaupt, all das vollzieht sich in einem Spannungsfeld zwischen Bewahren und Kreativsein, d.h. wir möchten kommenden Generationen eine lebbare Umwelt erhalten, bewahren - und trotzdem offen sein für Neues, zu Innovationen ermutigen.

Sehen Sie Ihre Arbeit nicht stärker gefährdet unter den veränderten Kräfteverhältnissen im Nationalrat, im Bundesrat?
Ja, das Ganze ist ein Ärgernis im wahrsten Sinn des Wortes, denn der Sozialstaat ist mehr gefährdet denn je! Schützen und Erhalten im Interesse einer Allgemeinheit tritt in den Hintergrund, Abbau ist Trumpf!
Für unsere grüne Arbeit verändert sich insofern nichts, als wir ja als kleine Partei immer schon für unsere Grundanliegen sehr kämpfen mussten. Der Wind weht uns jetzt halt etwas rauer um die Ohren. Ich hoffe, wir werden ihm standhalten - was mit meiner Beheimatung innerhalb des politischen „Kuchens“ zu tun hat: Wenn es mir wohl ist mit den Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, lohnt sich der Einsatz, auch wenn er uns einiges abverlangt.

Die Frauen müssen zurzeit harte Rückschläge verdauen, nicht?
Schon, aber auch vor den Wahlen gab es viele Frauen und Männer, die dem feministischen Aspekt keine Bedeutung beimessen wollten, obwohl wir immer wieder darauf hingewiesen haben. Die neue Zusammensetzung des Bundesrats hat offensichtlich einige Frauen wachgerüttelt; sie werden sich bewusst, was es heisst, die Sichtweise von Frauen für Frauen zu betonen. Bürgerliche Frauen, junge Frauen, die gemeint hatten, alles sei erreicht - Ruth Metzler gehörte auch zu ihnen, sie war nie eine Frauenpolitikerin -, lassen sich zum ersten Mal bewegen. Das immerhin hat der raue Wind bereits bewirkt.

Kommen wir noch auf die soziale Komponente Ihrer Arbeit zu sprechen...
Mit dem Stichwort „sozial“ verbinde ich immer gleich das Stichwort „Gerechtigkeit“, und untrennbar damit verknüpft sind die Menschenrechte. Wenn ich das alles in Zusammenhang bringe mit unserem Thema „Heimat“, muss ich die Sans-Papiers erwähnen. Sie sind krasser von Heimatlosigkeit betroffen als andere AusländerInnen und MigrantInnen, die hier zumindest ein Stück Heimat gefunden haben. Die Sans-Papiers sind entrechtet, und das ist wohl das Schlimmste, was Menschen passieren kann. Momentan wird ihre Zahl in der Schweiz auf sage und schreibe 300'000 geschätzt! Sie sind Menschen, die offiziell gar nicht existieren, es darf sie nicht geben - sonst nähme man das Problem ernster und würde endlich eine „menschenrechtsgerechte“ Situation schaffen oder wenigstens zu schaffen versuchen.
In der Westschweiz ist die Bewegung zugunsten der Sans-Papiers stärker als bei uns. Im Kanton St. Gallen gibt es auch Sans-Papiers, aber kaum jemand spricht von ihnen, und sie haben zu Recht Angst: Wenn sie sich zu erkennen gäben, wäre die Gefahr sehr gross, dass sie ausgewiesen würden. Zumindest hätten sie von der zuständigen Regierungsrätin nicht allzu viel zu erwarten.
Ich kann mir ja diese Angst, entdeckt zu werden, gar nicht richtig vorstellen. Wenn ich ein Visum habe für ein bestimmtes Land, gehe ich hin und sage: Da bin ich, voilà! Die Sans-Papiers aber können nicht nur nicht ins eigene Land zurückkehren: Sie müssen hier als Nicht-existierende leben. Das hat auch eine schwierige psychische Komponente.

Mir scheint, wir befassen uns in unserem Land nur periodisch mit den Sans-Papiers; ich erinnere mich, dass 2002 das Interesse an ihnen grösser war als heute.
Vor zwei Jahren hatten wir die einmalige Situation, dass sich viele Sans-Papiers in Kirchen zusammenfanden und sich der Öffentlichkeit stellten. Seither steht die politische Forderung nach einer Kollektivlösung immer noch im Raum, die Forderung also, dass nicht einzelne Personen dableiben können und andere abgeschoben werden, bloss, weil noch keine konsensfähige Lösung gefunden worden ist. Dieser Zustand verunmöglicht es den Sans-Papiers ja gerade, sich zu erkennen zu geben.

Gedenken Sie in nächster Zeit etwas zu unternehmen?
Nein, ich bin zurzeit etwas hilflos in dieser Frage. Ich hatte damals, vor zwei Jahren, auch Kontakt mit VertreterInnen von Sans-Papiers, und wir haben auch in St. Gallen versucht, an ihrem Status quo etwas zu ändern, üben aber keinerlei Druck aus, weil wir sie unter keinen Umständen gefährden möchten. Es gilt sorgfältig abzuwägen, was für sie das Beste ist. Ein realpolitischer Ansatz ist, den Entscheid des Bundesrates durchzusetzen, dass Krankenkassen auch Sans-Papiers aufnehmen müssen, ohne sie bei der Fremdenpolizei zu melden. Damit wäre endlich zumindest die Gesundheit der Sans-Papiers gewährleistet.

Ihre Wünsche als Grüne Politikerin an die Heimat, in der Sie politisieren?
Ich wünsche mir, dass es in der Schweiz der Zukunft normal ist und nicht als Last, sondern als Bereicherung empfunden wird, dass wir unterschiedliche Menschen sind. Das Menschsein Dürfen darf nicht abhängig gemacht werden vom Ort, an dem man auf die Welt gekommen ist.
Nur kurze Zeit leben wir auf diesem Planeten, wir und all die anderen auch. Unsere vielfältigen Verschiedenheiten sollten uns nicht hindern, als Gleichwertige miteinander umzugehen, unabhängig von Rasse, Herkunft und Geschlecht. Alle Menschen, egal welchen Status sie haben, müssten wahrnehmen können, dass sie existieren dürfen. Wir sollten fähig werden, ihnen ein Stück Heimat zu geben - Heimat nicht reduziert auf Alphornbläser und Bergbähnli - damit sie sich als Menschen angenommen wissen.
Kinder können das besser; sie behandeln andere Kinder aus anderen Kulturkreisen und Sprachräumen als „Gschpänli“. Unter Erwachsenen stellen AusländerInnen plötzlich eine Bedrohung dar - darum wünsche ich mir, dass das „Gschpänli-Sein“ anhält: Ich brauche Dich, und du brauchst mich. Auch sollten wir nicht leugnen, sondern akzeptieren, dass wir ein Einwanderungsland sind. Solches Verhalten würde die Schweiz bereichern.

Finden Sie mit diesem Denken nicht mehr Rückhalt bei Frauen als bei Männern?
Bestimmt. Das hat wohl damit zu tun, dass es sich hier um Beziehungsarbeit handelt, und Beziehungsarbeit braucht Zeit; es sind eher - nicht ausschliesslich - Frauen, die sich diese Zeit nehmen.
Beziehungsarbeit hat einerseits mit Wertschätzung zu tun und anderseits mit dem Entscheid für eine Tätigkeit, die nicht primär „rentieren“ muss. Frauen können sich da besser engagieren, sie spüren frühzeitig, wenn in Abläufen etwas nicht stimmt und werden aktiv.
Frauen, die in ihrer Biografie durchschnittlich mehr Erfahrungen von Bedrohtsein und Benachteiligtsein machen als Männer, sind häufig auch stärker sensibilisert für das Bedrohtsein anderer, weil sie einen einfacheren Zugang haben. Ich möchte aber diese Fragen keinesfalls auf das Geschlecht reduzieren! Es gibt Frauen wie Männer, die das Feeling haben, und es gibt sehr wohl weniger Sensible auf beiden Seiten.

Peter Bichsel hat einmal geschrieben: Heimat ist dort, wo man keine Angst hat. Stimmt das für Sie?
Jein! Heimat kann für mich eben gerade ein Ort sein, wo ich Angst haben darf, wo ich Tränen zulassen darf, wo auch die schwierigen Seiten meines Lebens Platz haben. Und das hat wieder mit dem bereits erwähnten Angenommensein zu tun; möglicherweise ist die Angst nicht einfach weg, aber ich fühle mich gehalten.
Heimat hat für mich auch damit zu tun, dass ich mich nicht eingeengt fühle, sondern eingebettet, und dass ich mich entfalten kann. Wenn ich eingeschränkt bin, mich in einem Raum, einer Stadt nicht frei bewegen kann, widerspricht das meinem Heimatgefühl; die Rahmenbedingungen müssten so sein, dass sich jeder Mensch entfalten kann.
Menschen mit einem engen Heimatbegriff, der auf Egoismus und Fremdenfeindlichkeit beruht, meinen, Sicherheit nur mit vermehrtem Polizeieinsatz gewährleisten zu können, und sie würden am liebsten die Grenzen schliessen. Dabei bedeutet Sicherheit viel mehr als körperliches Nicht-Bedrohtsein: die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, zu einem Land, aber auch meine Zugehörigkeit im globalen Sinn - wir sind alle BewohnerInnen desselben Universums. Diese Lebenseinstellung verspricht mir und meinen Mitmenschen Wohlergehen. Der Blick auf unser kleines Gärtlein genügt also nicht.

Das Gespräch führte Elisabeth Ammann, Lichtensteig  
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