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«Wird die Qualität in der Pflege weggespart?»
erschienen in NOVAcura- das Fachmagazin für Pflege und Betreuung, 3/2010

«Wird die Qualität in der Pflege weggespart?» Diese Frage liegt vielen Pflegenden auf dem Magen und weckt immer mehr ernsthafte Besorgnis. Pia Hollenstein, eine ausgewiesene Fachfrau in Pflege und Betreuung, politisch engagiert und aktiv, setzt sich seit vielen Jahren auf verschiedensten Ebenen für eine hohe Pflegequalität ein. Auch während ihrer langjährigen Tätigkeit als Nationalrätin stand sie immer wieder für gute Rahmenbedingungen ein. Im Interview nimmt Pia Hollenstein Stellung zu Möglichkeiten, Grenzen und Auswirkungen von Sparmassnahmen in der Pflege.

NOVAcura: In immer kürzeren Abständen rollt eine Sparwelle um die andere über die Institutionen des Gesundheitswesens. Aufgrund ihrer Anzahl sind die Pflegenden als Berufsgruppe besonders von den Einsparungen betroffen. Treffen diese Einschätzungen zu?
Pia Hollenstein: Die Anforderungen an die Pflege sind in den letzten Jahren tatsächlich enorm gestiegen, sowohl in den Institutionen als auch in der Spitex. Der Spardruck führte mancherorts zu Stellenkürzungen und auch zur Tendenz, anstelle von Fachper-sonal eher Freiwillige oder Hilfspersonal zu beschäftigen. Ungenügend ausgebildete Pflegende sind jedoch bei der immer komplexeren Situation von Hochbetagten, gebrechlichen und mental eingeschränkten Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern schnell überfordert. Dadurch steigt die Gefahr von Fehlhandlungen. Die Freiwilligenarbeit ist sicher zu fördern, aber auf keinen Fall dort, wo professionelles Handeln nötig ist.

AlterspflegeIn der Alterspflege nimmt der Personalbedarf am stärksten zu - aber ausgerechnet hier ist es heute schon am schwierigsten, qualifizierte Leute zu finden. (Foto: Martin Glauser)

Die Situation ist namentlich in der Alterspflege brisant. Hier nimmt der Personalbedarf am stärksten zu. Für die Alterspflege werden bis im Jahr 2020 mindestens 15'000 zusätzliche Mitarbeitende benötigt. Denn die Bevölkerung im Rentenalter wächst in diesem Jahrzehnt um 400'000 Personen, und unter den Hochbetagten wird der Anteil an Demenzkranken stark zunehmen. Doch ausgerechnet bei der stationären Alterspflege ist es bereits heute schwierig, qualifiziertes Personal zu finden. Aus Spargründen wird das Pflegefachpersonal zunehmend durch weniger qualifiziertes ersetzt.

Was sind die Folgen dieser knappen Mittel?
Der Spardruck führte in den letzten Jahren dazu, dass immer mehr Pflegearbeiten in kürzerer Zeit verrichtet werden müssen. Immer mehr Kranke werden früher aus dem Spital entlassen. Gleichzeitig wächst der Wunsch, möglichst lange zu Hause bleiben zu können. Entsprechend ist der Pflegeaufwand grösser geworden, während die Stellenprozente meist nicht entsprechend angepasst wurden. Weiter führte der Druck seitens der Krankenkassen, besonders in der Spitex, zu einer «Stoppuhr-Mentalität». Auch in den Heimen müssen die Pflegearbeiten mit den Leistungserfassungssystemen erfasst werden. Dies bedeutet, dass von den Pflegenden zunehmend ökonomisches Denken verlangt wird.

Es ist auch festzustellen, dass seit ein paar Jahren die breite Bevölkerung mehr weiss, beispielsweise über Demenzerkrankungen. Damit entwickeln die Betroffenen zu Recht auch den Anspruch, entsprechend betreut zu werden.

Dass der Spardruck so stark auf den Pflegenden lastet, hat damit zu tun, dass er sich von oben her entwickelte. Die Pflegenden selber wurden nicht einbezogen bei der Suche nach Sparmöglichkeiten und Verbesserungen. Demnach akzeptieren sie die Einschränkungen verständlicherweise auch schlecht. Denn Vorschläge, wie ohne Einschränkung der Pflegequalität Einsparungen realisiert werden könnten, existieren sehr wohl.

Leidet die Behandlungs- und Pflegequalität bereits heute unter den zum Teil prekären Arbeitsbedingungen?
Dazu gibt es keine für alle Arbeitsplätze gültige Antwort. In grösseren Zentren, wo verhältnismässig auch ein grösserer Anteil an sehr gut qualifiziertem Personal angestellt ist, sind die Bedingungen nicht schlecht. An Orten hingegen, wo die Stellen mit weniger gut ausgebildetem Personal besetzt werden, kommt die Pflegequalität entsprechend unter Druck. Prekär ist die Tatsache, dass vielerorts bei der Fort- und Weiterbildung gespart wird.

Für die Akutpflege ist eine Verdichtung der Arbeit festzustellen. In der geriatrischen Pflege lässt sich Ähnliches feststellen, wenn auch aus anderen Gründen: Da die Menschen so lange wie möglich zu Hause wohnen und dort falls nötig betreut werden, nimmt die Höhe des Betreuungsaufwands beim Eintritt in eine Institution von Jahr zu Jahr zu. Aufgaben wie administrative Tätigkeiten schränken die eigentliche Pflegetätigkeit zusätzlich ein. Vor allem für den Spitex-Bereich wird sich diese Situation noch verschärfen, da mit der Einführung der Swiss-DRG ein erheblicher Mehraufwand auf die ambulante Pflege zukommt.

Immer öfter kommt heute der Einwand, es sei kaum mehr möglich, nach ethischen Prinzipien pflegen zu können. Wie vertragen sich ethische Prinzipien und Spardruck?
Vorweg: Ethische Prinzipien sind lediglich eine Art Kompass und keine detaillierte Strassenkarte. Sie können ganz unterschiedlich ausgelegt werden, aber jede Auslegung ist für sich richtig. Es gibt zum Beispiel gute Gründe, im Sinn der Gleichberechtigung für alle Patientinnen und Patienten den genau gleichen Pflegeaufwand einzusetzen. Ebenso gut lässt sich aber vertreten, dieser Zeitaufwand sei entsprechend dem vorhandenen Bedarf aufzuwenden. Ethische und ökonomische Prinzipien sind zudem nicht grundsätzlich unvereinbar.

In einer Studie von 2008 werden Pflegende der ambulanten Pflege zu den Dilemmas ihres Berufsalltags befragt. Ein Fazit: Den Pflegenden gelang es nur schwer, den Erwartungen der Patientinnen, den professionellen Anforderungen der Pflegesituation und den Zeit- beziehungsweise Mittelvorgaben in gleicher Weise gerecht zu werden. Häufig musste die Qualität der Pflege eingeschränkt werden, um die wirtschaftlichen Vorgaben einzuhalten.

Ausbildung FaGe und HFDer Run auf Ausbildungsplätze FaGe und HF ist ungebrochen, die Herausforderung besteht darin, die Berufe langfristig attraktiv zu gestalten. (Foto: Martin Glauser)

Wie kann verhindert werden, dass Sparbeschlüsse mehr oder weniger bloss noch unter ökonomischen Gesichtspunkten gefällt werden?
So schwarz-weiss ist die Realität nicht. Es gibt überall Mitarbeitende, die abwägen, wie ein Problem für alle befriedigend gelöst werden kann. Pflegende setzen sich enorm dafür ein, dass möglichst kein Schaden entsteht. Auch Gesundheitsökonomen denken nicht nur ökonomisch, sondern gehen etwa auch der Frage der Gerechtigkeit im Gesundheitswesen nach. Was es aber sicher braucht, sind Kontakte und Gespräche über die einzelnen Interessengruppen hinweg, um den jeweils anderen Standpunkt besser kennen- und verstehen zu lernen.

Welche Sparmöglichkeiten liegen in der Aus-, Fort- und Weiterbildung brach?
Wer bei der Fort- und Weiterbildung spart, tut dies am falschen Ort. Denn mittelfristig schlägt sich dies in Qualitätseinbussen nieder, was womöglich teurer zu stehen kommt. Um den Status quo zu beschreiben, müssen diese drei Bereiche separat betrachtet werden: In die Ausbildung wurde und wird zu Recht sehr viel investiert. Die Fort- und Weiterbildung hingegen wird sehr unterschiedlich gehandhabt. Da wären verpflichtende Vorgaben hilfreich, vielleicht Minimalstandards. Eine grosszügige Mitfinanzierung der Weiterbildungskosten durch die Arbeitgeber trägt auch zur Arbeitszufriedenheit bei und verhindert Fluktuationen.

Wenn nun aber gespart werden muss – wie könnte dies aus Ihrer Sicht geschehen?
Umfragen und der sehr zurückhaltende Kassenwechsel jeden Herbst zeigen es: An der Gesundheit will eigentlich niemand sparen. Natürlich gibt es Potenzial in der Verwaltung, etwa mit einer Einheitskrankenkasse, oder im Hightechbereich, beispielsweise mit der gemeinsamen Nutzung teurer Apparate. Aber generell ist die Schweizer Bevölkerung mit ihrem Gesundheitswesen erstaunlich zufrieden. Unbeliebt sind nur die hohen Prämien. Um diese zu senken, muss der Staat mehr zuschiessen. Und dieses Geld müssen wir mobilisieren. Wie dies gehen könnte, zeigten die Grünen schon vor 20 Jahren mit ihrer Volksinitiative «Energie statt Arbeit besteuern». Bei deren Annahme hätten Personen mit grossem Energieverschleiss mehr Abgaben zahlen müssen, die Arbeit wäre günstiger geworden. Und aus den Erträgen hätten die Prämien gesenkt werden können.

Zurück zum Spardruck. Welche Folgen hat er auf die Sicherung des Nachwuchses und auf die Attraktivität der Pflegeberufe insgesamt?
Der «Nationale Versorgungsbericht für die Gesundheitsberufe 2009» zeigt eindrücklich, dass rasche und substanzielle Massnahmen nötig sind. Nur so kann die Versorgung mit genügend und genügend qualifiziertem Personal in Spitälern, Pflegeheimen und im ambulanten Bereich in Zukunft gewährleistet werden.

Was schlagen Sie vor, um die Pflegeberufe aufzuwerten?
Um die Berufsattraktivität zu steigern, müssen wir in erster Linie das Image des Berufs verbessern. Dazu hat der SBK mit der Kampagne zur «Sichtbarmachung der Pflege» einen wichtigen Betrag geleistet. Zur Systemkorrektur gehört auch die Erkenntnis, dass Pflege – besonders auch in der Geriatrie – ihren Wert hat und deshalb etwas kosten darf. Ältere Menschen haben längst ihren Beitrag zum Allgemeinwohl geleistet. Eine gute Pflege darf nicht zum verhandelbaren Gut werden, schon gar nicht in der Betagtenbetreuung.

An uns Pflegenden liegt es, selbstbewusster aufzutreten. Wir haben der Öffentlichkeit und im Bekanntenkreis darzulegen, dass Pflege nicht als Kostenfaktor, sondern als Erfolgsfaktor zu verbuchen ist. Den Pflegenden ist es schliesslich zu verdanken, dass das Gesundheitswesen als Ganzes – dank deren Interventionen – Kosten spart.

Nicht zuletzt sabotieren in vielen Gesundheitsinstitutionen hierarchische Strukturen das Arbeitsklima. Solche Zustände vergällen die Freude am Arbeitsplatz und schaden dem Image der Pflegeberufe.

Doch nach wie vor wollen viele den Pflegeberuf ergreifen – alles kein Problem also?
Leider doch. Tatsächlich ist der Run auf die Gesundheitsberufe zwar erfreulicherweise ungebrochen. Der Zulauf auf Ausbildungsplätze für FaGe und HF ist hoch. Die Frage ist daher eher, wie man die Berufe so attraktiv gestalten kann, dass die ausgebildeten Pflegenden in der Branche bleiben. An der Verdichtung der Arbeit, die auch in anderen Branchen stattfindet, wird man nichts ändern können. Es muss deshalb mehr getan werden, um die Verweildauer im Beruf zu erhöhen und Ausgebildete nach der Kinderpause ins Berufsfeld zurückzuholen. So braucht es vielerorts Rahmenbedingungen, damit die Vereinbarkeit von Beruf und Familie vermehrt ermöglicht wird. Auch müssten neue Modelle entwickelt werden, damit für Frauen und Männer über 40 die Pflegeausbildung als Zweitberuf attraktiv wird, und zwar sowohl lohnmässig als auch bezogen auf das Ausbildungsprogramm. Zudem müssten ganz allgemein Lohnerhöhungen mehrheitsfähig und dann umgesetzt werden. Und etwas vom Wichtigsten: Die Spitäler und Heime müssen genügend Ausbildungsplätze bereitstellen.

«Liegt uns eine gute Pflegequalität am Herzen und wollen wir mitgestalten, darf uns die Politik nicht gleichgültig sein.»
Und was ist der Beitrag der Pflegenden?
Die Pflege, im Speziellen die Pflege älterer Menschen, hat noch immer nicht jenen Stellenwert, der ihr gebührt. Dies gilt sowohl gesellschaftspolitisch als auch bei den Verantwortlichen in Kantonen und Gemeinden. Was tun? Vor einigen Jahren titelte eine Tageszeitung: «Pflegende haben keine Lobby.» Ich mag das Lied der fehlenden Berücksichtigung nicht mehr hören. An vielem sind wir Pflegenden selber Schuld, denn wir haben die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen, bisher sträflich vernachlässigt. Unsere Abstinenz in der Politik führte dazu, dass unser grosses Fachwissen für politische Entscheide nicht genutzt werden wird. Dies wiederum bedeutet, dass wir uns den Entwicklungen zu fügen haben, auch wenn diese die minimalsten Anforderungen an die Pflegequalität nicht mehr gewährleisten. Wenn die Arbeitsbedingungen immer schlechter werden, müssen wir dringend mehr Einfluss nehmen. Dazu gehört:
  • vom Verharren an der Klagemauer wegkommen und selbst kreative Verbesserungsvorschläge entwickeln;
  • kommunizieren, dass ein Abbau von Stellenprozenten oder von Fachpersonen letztlich Mehrkosten verursacht und deshalb ökonomisch falsch ist;
  • bei Unklarheiten und Widersprüchen kritisch nachfragen und unsere Erfahrungen in politisch-strategisches Handeln umsetzen.
Wohin die Reise geht, können wir als Berufsgruppe auch mitbestimmen und mitprägen. Dafür braucht es auch ein Engagement im Berufsverband, in der Gewerkschaft oder in der Politik. Eine gute Pflegequalität hat sehr viel mit personellen, zeitlichen und finanziellen Mitteln zu tun. Und die Mittel wiederum, die dem Gesundheitswesen zur Verfügung stehen, haben sehr viel mit Politik zu tun. Liegt uns eine gute Pflegequalität am Herzen und wollen wir mitgestalten, darf uns die Politik nicht gleichgültig sein.

Interview: Margrit Freivogel

«Ich schätze die Nähe zur Pflegepraxis und die Möglichkeit, meine Erfahrungen als Berufsschullehrerin, Ethikerin und Pflegefachfrau täglich nutzen zu können.»
Pia Hollenstein ist Pflegefachfrau mit Diplomabschluss AKP und verfügt über eine Weiterbildung in Intensivpflege und Reanimation. Sie bildete sich zur Berufsschullehrerin aus und war ab 1985 an der Schule für Gesundheits- und Krankenpflege Stephanshorn als Berufsschullehrerin tätig. Von 1991 bis Juni 2006 war sie im Nationalrat. Von 2005 bis 2007 absolvierte sie den Nachdiplomstu-diengang «Master of Advanced Studies in Applied Ethics» am Ethik-Zentrum der Universität Zürich. Zurzeit macht sie den Nachdiplomstudiengang «Master in Geriatric Care» an der Hochschule für Gesundheit des WE'G in Aarau (2008 bis 2011). Seit dem 1. Dezember 2009 arbeitet sie als Bildungsbeauftragte im Kantonalen Spital und Pflegeheim Appenzell.
  
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