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Pflegequalität – wenn gespart wird
Festrede an Diplomfeier HöFa II / 16 am Weiterbildungszentrum für Gesundheitsberufe WE‘G in Aarau, 15. September 2005

Mit der Anfrage an mich, heute die Diplomrede zu halten, haben Sie in Kauf genommen, dass es nun etwas politisch wird. Das Thema “Pflegequalität – wenn gespart wird” ist eigentlich zu ernst für eine Diplomfeier. Wann immer das Thema sparen auf den Tisch kommt, handelt es sich nie um eine Festrede. Es geht um Politik, um Geld und um Macht. Doch ich bin gerne gekommen und danke Ihnen für die Einladung.

Liebe Diplomandinnen, liebe Diplomanden. Sie haben sich an sechs vollen Tagen mit Pflegequalität auseinander gesetzt und haben gleichzeitig über “Rationierung und Rationalisierung” philosophiert. Das war vermutlich genug, um zu erkennen, dass die Thematik “Pflegequalität und Sparen” nie abgeschlossen ist und es dazu noch sehr viel mehr zu sagen gibt. Sonst hätten Sie mich nicht gebeten, zu diesem Problemkreis zu sprechen. Aber keine Angst. Ich bin zwar Berufsschullehrerin. Aber ich bin auch Politikerin und werde jetzt nicht über den multi-professionellen Ansatz in der Qualitätsarbeit, nicht über Q-Modelle oder Prozessnetzwerke sprechen. Denn diese Themen haben Sie als Diplomandinnen und Diplomanden ja intus. Ich werde vielmehr versuchen, mögliche Zusammenhänge von Pflegequalität und Politik aufzuzeigen. Denn Pflegequalitäts-Sicherungs-Instrumente hin oder her, am Anfang steht die Frage: Was ist uns Pflege wert? Und was passiert, wenn Pflege ungenügend, unprofessionell oder überhaupt nicht mehr geleistet wird?

Die Schwierigkeit beginnt bei den Vorgaben: Zwar existieren unterdessen in fast allen Kantonen Gesundheitsleitbilder. Die Pflegenden kennen diese aber oft nicht. Wer zum Beispiel von den Anwesenden aus dem Kanton St.Gallen ist sich bewusst, dass im Gesundheitsleitbild Leitsätze stehen wie: “Die Bevölkerung wird über Gesundheitsrisiken und gesundheitsfördernde Lebensweisen informiert. Der Lebensraum der Menschen wird gesundheitsfördernd gestaltet. Die Bevölkerung wird gegen gesundheitsschädigende Einwirkungen geschützt.” Denn in der praktischen Umsetzung würde dies heissen, dass auf Fluglärm, Abgase und so weiter als gesundheitsschädigende Einwirkungen reagiert werden muss – was wir doch nur sehr zurückhaltend erleben. Und der Leitsatz 7 lautet: “Qualität fördern. Die Leistungen werden in hoher Qualität und im Rahmen des wirtschaftlich Möglichen erbracht”. Solche und ähnliche Leitbildsätze sind für die Pflege, für uns alle, eine Herausforderung. Was heisst das nun für unsere Berufstätigkeit, sei es im Schulbereich oder in der Pflegepraxis? Was heisst es, wenn im Gesundheitsleitbild steht: “Aufgabe des Kantons ist es, ein bedarfsgerechtes Angebot sicherzustellen, das der Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit dient.”?

Was heisst bedarfsgerechtes Angebot? Jedenfalls sind solche Formulierungen für die Pflege eine Herausforderung. Eine Herausforderung die sich nicht am Krankenbett erschöpft, sondern nach den politischen Rahmenbedingungen fragt.

In der Öffentlichkeit stehen im Gesundheitswesen zwei Punkte im Vordergrund: Kosten und Qualität. Eine gute Versorgung wünschen sich alle, denn alle können krank werden. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2003 ergab nicht überraschend, dass sich die Stimmberechtigen, wenn sie zwischen der Qualität der Leistungen und tieferen Kosten wählen müssten, eindeutig der Qualität den Vorzug geben. Dieser Tatsache sollten wir uns immer wieder bewusst werden. Wenn Qualität für alle wichtig so ist, sollte die Qualitätsfrage in unserem Berufsalltag und auch in der Politik, in der Gesellschaft, eine stärkere Rolle spielen. Dazu können wir viel beitragen. Aber wie wichtig ist uns die Qualitätssicherung? Empfinden wir die Qualitätsicherungsmethoden und –massnahmen nicht oft als Zusatzarbeit, als Last? Sind wir wirklich an den Ergebnissen der Qualitätssicherung interessiert?

Und wie interessiert ist die Politik? Bundesrat Couchepin als Gesundheitsminister ist für seine Schnellschüsse zur Senkung der Staatsausgaben bekannt. Sein ewiges Argument lautet, man müsse auf die Wirtschaftlichkeit achten. Nur: Gerade in der Pflege kann sich dies als Bumerang auswirken. Denn wird am falschen Ort Leistung reduziert, kann dies zu weit höheren Kosten am anderen Ort führen, was volkswirtschaftlich teuer zu stehen kommt. Dazu ein paar Beispiele, die Ihnen aus dem Arbeitsalltag bekannt sein dürften: Wird beim Pflegepersonal gespart, steigt die Fehlerquote und es entstehen neue, unnötige Kosten. Wird bei wichtigen Massnahmen wie der Hygiene, der Mobilisation oder auch einer guten Mundpflege gespart, steigt die Gefahr der Komplikationen enorm. Die angelaufene Diskussion der Pflegefinanzierung wird wohl noch manche Entgegnung des Berufsverbandes provozieren. Doch vergessen wir nicht, der Berufsverband, das sind auch Sie und ich. Auf die Stärke, den Einsatz des SBKs kommt es an. Aber auch darauf, den Zeitungen, Parlamentarierinnen und Parlamentariern mit persönlichen Briefen und Mails klar zu machen, was man von solchen Abbaumassnahmen hält.

Pflegequalität hat sehr viel mit politischen Rahmenbedingungen zu tun. Und auf diese Rahmenbedingungen heisst es Einfluss zu nehmen, mitzugestalten. Ich weiche nun vom vorgegebenen Titel: “Pflegequalität – wenn gespart wird” ab und komme zur Frage, «Wie sollen wir denn Einfluss nehmen?» Was muss sich ändern?

Wir Berufsangehörigen im Gesundheitswesen sind seit jeher dazu erzogen, unsere Berufsarbeit im engeren Sinn möglichst pflichtbewusst und effizient zu erledigen. Wir haben uns weitgehend an frauenunfreundliche Modelle der Arbeitswelt angepasst. Die Erwartung, eine gute Pflegefachfrau zu sein, haben wir erfüllt, indem wir möglichst jederzeit verfügbar sind und uns immer nett benehmen, Fragen und Bedürfnisse nicht nur erfüllen, sondern diese von den Lippen ablesen. Nur selten haben wir uns gewagt, Forderungen zu stellen, klare Positionen einzunehmen und das Risiko, anzuecken, auf uns zu nehmen. Die richtigen Fragen zu stellen ist aufwändig, verlangt eine differenzierte Analyse und Hintergrundwissen. Aber müssen wir uns als Pflegende wirklich auch noch mit Politik abmühen? Wir haben doch schon mit unserer eigentlichen Berufsarbeit genügend zu tun. Wir wollen unser Bestes geben. Eine gute Pflegequalität leisten. Dann reicht es meist gerade noch, die Entscheide oder eben die Fehlentscheide der Politik zu bejammern, zu beklagen und uns in die selbstgefällige Opferrolle zurückzuziehen.

Die Politikabstinenz vieler Pflegenden führt dazu, dass wir das nötige Sachwissen erst dann vermittelt bekommen, wenn die Entscheide getroffen sind. Und dann liebe Kolleginnen und Kollegen ist es meist zu spät. Dann bestimmen andere, und zwar noch so gerne.

Zurück zum Referattitel: Aus dieser Analyse lässt sich zusammenfassend sagen, dass wir unsere Verantwortlichkeit als Berufsgruppe bisher ungenügend wahr genommen haben. Politikabstinenz führt dazu, dass unser grosses Fachwissen für politische Entscheide nicht genutzt werden kann. Dies wiederum bedeutet, dass wir uns politischen Entscheiden zu fügen haben, auch wenn diese die minimalsten Anforderungen an die Pflegequalität nicht mehr gewährleisten. Auch wenn die Arbeitsbedingungen immer schlechter werden: immer mehr Arbeit pro Zeiteinheit, immer weniger Arbeitszufriedenheit. Schliesslich bleibt die Frustration, ausgeliefert zu sein und nichts verändern zu können.

Dass uns oft die Rahmenbedingungen für eine gute Pflegequalität fehlen, hat auch mit unserem verbreiteten Verzicht auf politische Einflussnahme zu tun. Dass unsere Bedürfnisse nicht aufgenommen werden von der Politik, ist oft gar nicht böser Wille, sondern Unkenntnis der Situation. Und die Politik ist sich ja auch daran gewöhnt, dass wir so nett sind. Dann müssen wir uns auch nicht wundern, wenn wir von den Zuständigen an den Machthebeln von den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen werden. Solange jedoch in den kantonalen und nationalen Parlamenten, wo schliesslich die Budgets verabschiedet werden, also die finanziellen Leitplanken festgelegt werden, unsere Berufsgruppe faktisch abwesend ist, wird unser Einfluss sehr gering bleiben.

Was heisst unseren Einfluss geltend zu machen? Es heisst
  • vom Verharren an der Klagemauer wegkommen,
  • die Erfahrungen in politisch-strategisches Handeln umsetzen,
  • sich mit gleichgesinnten Frauen – und selbstverständlich auch Männern – zusammentun, sich denselben Zielen verpflichten, die politischen Möglichkeiten nutzten,
  • Das Pflegepersonal muss rechnen lernen. Was lohnt sich? Was lohnt sich nicht? Und wir müssen die richtigen Fragen stellen. Nachfragen, anhand welcher Kriterien welche Entscheide getroffen werden. Wo besteht die Gefahr, dass ich und mein Betrieb, meine Abteilung, übers Ohr gehauen wird? Welches kann mein Beitrag zu sinnvollem Sparen sein?
  • versuchen, gesundheitspolitische Entwicklungen zu beeinflussen. Soll wirklich in High-Tech vermehrt investiert werden oder nicht besser in Gesundheitserziehung, Salutogenese und Prävention?
  • Durch Politikabstinenz jedenfalls wird auch in Zukunft kein Rappen sinnvoller investiert. Es ist ja nicht so, dass grundsätzlich die finanziellen Mittel fehlen. Die Schweiz leistet sich das zweitteuerste Gesundheitswesen der Welt. Es fragt sich nur, wo die Mittel investiert werden sollen: Es geht um einen eigentlichen Verteilungskampf. Wer gar nicht erst kämpft, hat schon verloren.
Wir – besonders wir Frauen – müssen lernen, zu einer neuen Machtverteilung beizutragen. Wir müssen Abschied nehmen von unserem tief verankerten Bestreben nach Anerkennung durch Wohlwollen. Es geht um eine Neuverteilung von Macht. Macht existiert so oder so. Die Frage ist bloss: mit oder ohne uns?

Ich kann Ihnen verraten: Politik kann auch lustvoll sein. Natürlich braucht es nicht nur Lust auf Lust. Es braucht auch etwas Lust, es einmal auszuprobieren. Wahlkämpfe sind Gratis-Rhetorikkurse. Wieso nicht einmal für ein Amt kandidieren? Wieso nicht einfach mal ausprobieren, wie es sich anfühlt, mit den eigenen Anliegen an die Öffentlichkeit zu treten? Schon Schiller sagte: “Wer nichts wagt, darf nichts hoffen.” – Das Ãœbungsfeld ist riesig.

Ich komme zum Schluss. Pflegequalität dient selbstverständlich nicht nur dem Pflegepersonal, sondern in erster Linie den Patientinnen und Patienten. Wir führen somit auch einen Kampf im Namen all jener, die für eine kürzere oder längere Zeit unsere Patientinnen und Patienten sind. Pflegequalität, das wissen Sie bestens, hat sehr viel mit personellen, zeitlichen und somit auch finanziellen Mitteln zu tun. Und die Mittel, die dem Gesundheitswesen zur Verfügung stehen, haben sehr viel mit Politik zu tun. Und Politik wiederum hat mit Macht zu tun. Liegt Ihnen die Pflegequalität am Herzen, darf Ihnen die Politik nicht gleichgültig sein.

Ich gratuliere Ihnen, liebe Diplomandinnen und Diplomanden, herzlich zu Ihrem Abschluss. Und ich wünsche uns allen, dass wir mit Lust und Freude die allgegenwärtigen Herausforderungen anpacken, sie lustvoll anpacken. Ich wünsche Ihnen und mir dabei Weitsicht und Zivilcourage. Es gibt viel zu gewinnen. Alles Gute!  
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